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AG Neuro-KI und Brain-Computer-Interfaces
(Dr. rer. nat. habil. Schilling)

Wie lässt sich das menschliche Gehirn mit KI verstehen – und umgekehrt? Am MCNN erforscht eine neue Arbeitsgruppe Neuro-KI, BCI und kognitive Prozesse. Ziel ist es, neuartige Therapien und technische Anwendungen zu ermöglichen.

Forschung zu Neuro-KI und Gehirn-Computer-Schnittstellen

Zurzeit wird viel über Künstliche Intelligenz (KI) gesprochen, insbesondere im Zusammenhang mit großen Sprachmodellen wie ChatGPT. KI wirkt oft geheimnisvoll, doch in Wirklichkeit beruht sie auf klaren mathematischen Prinzipien, vor allem auf linearer Algebra und Rechenverfahren mit Matrizen. Allerdings müssen solche KI-Modelle (meistens künstliche neuronale Netze) mit sehr großen Datenmengen trainiert werden, was eine enorme Rechenleistung erfordert. Die fertig trainierten Modelle sind aufgrund ihrer Größe nur noch schwer zu verstehen und zu interpretieren.

Im Gegenzug bieten sie aber ein breites Spektrum an Anwendungsbereichen und können die biomedizinische Forschung sowie den klinischen Alltag auf vielfältige Weise vereinfachen, effizienter oder schneller machen und/oder Personal entlasten.

Um die großen Chancen von KI in der Medizin und der Hirnforschung zu nutzen, wurde am Mannheimer Zentrum für Neuromodulation und Neuroprothetik eine neue Arbeitsgruppe für „Neuro-KI und Gehirn-Computerschnittstellen“ („Neuro-AI and BCI“) eingerichtet. Sie beschäftigt sich mit KI, Datenwissenschaft (Data Science), Gehirn-Computer-Schnittstellen (BCI) und kognitiven Prozessen im menschlichen Gehirn.

Leitung der Arbeitsgruppe

Wir erforschen, wie KI als Werkzeug und als Modell dabei helfen kann, Fortschritte in der Medizin, vor allem in der Neurologie, aber auch in anderen Bereichen der biomedizinischen Forschung, zu erzielen und die Funktionsweise des menschlichen Gehirns besser zu verstehen.

Projekte, Methoden und Ziele der Arbeitsgruppe

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Einführung in das Gehirn und das menschliche Nervensystem

Das Gehirn besteht aus etwa hundert Milliarden Nervenzellen (sogenannten Neuronen), die miteinander verbunden sind (aber lange nicht jede mit jeder anderen, sparse connectivity). Diese Verbindungen entstehen über Synapsen und formen ein äußerst komplexes Netzwerk.

Im Gehirn werden Informationen verarbeitet, indem elektrische und Signale (ein bisschen wie in einem Computer) in diesem Netzwerk verarbeitet werden. Dabei kann das Gehirn unfassbar große Mengen an Informationen speichern und zum Beispiel eine komplexe Sprache erzeugen. Es arbeitet dabei mit einem Energieverbrauch (pro Zeit) von etwa 20 Watt, was etwa dem Energieverbrauch einer Glühbirne entspricht (siehe auch Unser Gehirn ist eine 20-Watt-Serverfarm | FAU).

Das gesamte Nervensystem des Menschen besteht aus Gehirn, Rückenmark und den in den Körper hineinragenden Nerven. Diese sogenannten peripheren Nerven steuern Muskeln oder nehmen Reize aus der Umgebung auf, beispielsweise durch Tastsinneszellen in der Haut. Das Rückenmark verarbeitet diese Signale vor und leitet sie an das Gehirn weiter. Dort werden sie erkannt, bewertet, gespeichert und weiterverarbeitet.

Wie die Verarbeitung kleiner elektrischer Impulse im Gehirn dazu führt, dass Menschen eine komplexe Sprache entwickeln, oder wie es dazu kommt, dass eine bewusste Wahrnehmung der Umgebung entsteht, ist heute weitgehend unverstanden. So ist beispielsweise völlig unklar, wie elektrische Signale im Gehirn dazu führen, dass beim Anblick einer roten Rose tatsächlich ein rotes Objekt bewusst wahrgenommen wird, das verschiedene Assoziationen hervorruft. Es ist auch völlig unklar, ob die Farbe Rot für alle Menschen gleich aussieht oder ob jeder Mensch sein eigenes Rot sieht. Dieses sogenannte Qualiaproblem ist noch lange nicht verstanden oder erklärbar.

Damit ist natürlich auch nicht klar, wie individuelle Schädigungen des Nervensystems zu chronischen Schmerzen führen, die von verschiedenen Menschen unterschiedlich wahrgenommen werden und damit auch zu unterschiedlich großem Leid führen. Deswegen ermöglicht ein besseres Verständnis dieser Mechanismen zielgenauere und personalisierte Therapieformen zu entwickeln, die über die Behandlung der bloßen Symptome hinausgehen können. Genau das ist das Ziel der Arbeitsgruppe. 

 

Natürliche und künstliche Intelligenz (KI)

Das menschliche Gehirn ist ein echter Alleskönner. Es ermöglicht uns nicht nur zu sprechen, zu sehen, zu planen und zu fühlen, sondern auch flexibel auf neue Situationen zu reagieren. Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang von allgemeiner Intelligenz.

Künstliche Intelligenz ist dagegen meist auf einzelne Aufgaben beschränkt. Solche Systeme können beispielsweise Bilder erkennen oder Sprache verarbeiten, verstehen aber nicht, was sie tun. Eine künstliche Intelligenz, die ähnlich vielseitig wäre wie das menschliche Gehirn, gibt es bisher nicht. Man spricht dabei von allgemeiner künstlicher Intelligenz (artifical general intelligence: AGI), doch diese existiert nur in der Theorie.

Neuer KI-Server am MCNN

Damit heutige Systeme überhaupt etwas lernen können, benötigen sie riesige Datenmengen. Zusätzlich benötigen wirklich große KI-Systeme für das Modelltraining und den Betrieb Datenzentren und Hochleistungsrechner, die Strommengen im Megawattbereich verbrauchen, während wie oben beschrieben das Gehirn mit 20 Watt auskommt (ca. ein Millionstel).

Die trainierten KI-Systeme erkennen aus diesen Daten Zusammenhänge und wiederkehrende Strukturen. Dieser Bereich wird deshalb oft auch als Mustererkennung bezeichnet. Um solche Systeme zu entwickeln, ist sehr viel Rechenleistung erforderlich.

Deshalb richten wir in unserer Klinik einen eigenen KI-Server ein, der speziell für das Training von KI-Modellen ausgelegt ist. Damit können wir sensible Daten sicher verarbeiten und unsere Forschung direkt vor Ort vorantreiben. So schaffen wir eine leistungsfähige technische Grundlage für unsere Arbeit mit künstlicher Intelligenz in der Medizin und der Hirnforschung.

KI als Modell, um das Gehirn zu verstehen

Wie bereits beschrieben, ist künstliche Intelligenz weder so vielseitig noch so intelligent wie das menschliche Gehirn. Auch die zugrunde liegenden Rechenverfahren sind nicht oder nur sehr grob mit den biologischen Abläufen im Gehirn vergleichbar. Dennoch lassen sich künstliche neuronale Netzwerke, also die Rechenmodelle hinter vielen KI-Systemen, als vereinfachte Modelle für bestimmte Hirnfunktionen sinnvoll nutzen.

In einem früheren Projekt haben wir ein künstliches neuronales Netzwerk auf Sprachverarbeitung trainiert. Anschließend haben wir gezielt Störungen eingebaut, die einem Hörverlust ähneln, um besser zu verstehen, wie chronische Phänomene wie Tinnitus entstehen könnten. Solche Ansätze sind auch für andere neurologische Symptome, wie beispielsweise chronische Schmerzen, interessant, da dort möglicherweise ähnliche Mechanismen eine Rolle spielen.

Mit solchen Netzwerken kann man außerdem untersuchen, ob es Parallelen bei der Sprachverarbeitung gibt. So lässt sich beispielsweise analysieren, wie große Sprachmodelle Sprache verarbeiten und ob dabei ähnliche Muster entstehen wie im menschlichen Gehirn. Dazu misst man die Hirnaktivität mit Methoden wie der Elektroenzephalografie (EEG), bei der elektrische Signale an der Kopfoberfläche abgeleitet werden, oder der Magnetenzephalografie (MEG), bei der magnetische Felder des Gehirns erfasst werden. Anschließend vergleicht man die Ergebnisse mit der verborgenen Aktivität innerhalb des künstlichen Netzwerks. So kann man besser verstehen, wie biologische und künstliche Systeme Sprache repräsentieren.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Frage, wie nachvollziehbar die Entscheidungen solcher Systeme sind. Wenn künstliche Intelligenz in der Medizin eingesetzt wird, beispielsweise zur Unterstützung bei Therapieempfehlungen, ist es entscheidend zu wissen, worauf diese Empfehlungen beruhen. Vertrauenswürdige KI (trustworthy AI) bedeutet, dass die Funktionsweise der Algorithmen möglichst gut verstanden und erklärt werden kann.

KI als Werkzeug, um große Datenmengen auszuwerten und Therapieerfolge vorherzusagen

Wie bereits erwähnt, sind Systeme der künstlichen Intelligenz besonders gut darin, mit sehr großen Datenmengen umzugehen. Dem Menschen fällt es dagegen schwer, in solchen Daten die richtigen Zusammenhänge zu erkennen.

Genau hier kommt KI als hilfreiches Werkzeug ins Spiel, denn sie kann gezielt nach Mustern in komplexen Datenstrukturen suchen.

Beispiel

Wenn man ein Elektroenzephalogramm mit einer Abtastrate von zweitausend Messpunkten pro Sekunde über eine Stunde hinweg aufzeichnet und dabei vierundsechzig Kanäle gleichzeitig ableitet, entstehen mehr als vierhundertsechzig Millionen Einzelwerte. Diese riesige Datenmenge lässt sich als hochdimensionaler Zahlenraum darstellen.

Für das menschliche Gehirn ist das nicht mehr überschaubar, für moderne Computer jedoch sehr wohl. Mithilfe geeigneter Verfahren kann man diese Daten in niedrigere Dimensionen überführen und so verborgene Strukturen und wiederkehrende Muster sichtbar machen (z.B. über Auto-Encoder).

Genau an dieser Idee arbeiten wir derzeit in einem Projekt, in dem wir Messdaten aus der Magnetenzephalografie mithilfe von künstlicher Intelligenz analysieren. Unser Ziel ist es, Muster in der Hirnaktivität von Menschen mit chronischen Schmerzen zu erkennen und daraus Rückschlüsse auf mögliche Therapieerfolge zu ziehen. Solche Analysen könnten langfristig dazu beitragen, Behandlungen besser auf einzelne Patientinnen und Patienten abzustimmen.

Entwicklung von Mensch-Maschine-Schnittstellen (Brain-Computer-Interface: BCI)

Das zentrale Projekt der Arbeitsgruppe steht an der Spitze eines der derzeit spannendsten Forschungsfelder: der Entwicklung von Gehirn-Computer-Schnittstellen (BCIs).

Unser Ziel ist es, Menschen mit schweren Lähmungen oder vollständigem Verlust der Bewegungsfähigkeit neue Wege zur Kommunikation und Interaktion zu eröffnen. Zu diesem Zweck setzen wir ein Implantat in motorische Bereiche des Gehirns ein (z.B. ventraler prä-zentraler Gyrus). Die dort entstehenden Signale werden mithilfe von KI in Echtzeit analysiert und in konkrete Befehle, beispielsweise für die Sprachsteuerung oder die Kontrolle technischer Geräte, übersetzt. Wir wollen ein stabiles System entwickeln, was nur ein einziges Implantat benötigt, um verschiedene Funktionen gleichzeitig zu erfassen, darunter Sprache, Bewegung und innere Absichten.

Der Proof-of-Concept wurde schon erbracht (siehe Singer-Clark et al., 2025). Das ist technologisch äußerst anspruchsvoll, aber essenziell, denn jeder Eingriff in das Gehirn muss so schonend und effizient wie möglich sein. Die dabei gewonnenen Daten sind einzigartig. Sie bilden die Grundlage für bahnbrechende medizinische Anwendungen und eröffnen neue Einblicke in die menschliche Kognition.

Die neu gegründete Arbeitsgruppe versteht sich als interdisziplinäre Plattform an der Schnittstelle zwischen neurowissenschaftlicher Grundlagenforschung, translationaler Medizin und daten- und auch hypothesengetriebener Technologieentwicklung.

Der Fokus liegt auf personalisierten Ansätzen, bei denen die neuronale Aktivität einzelner Personen analysiert wird, um daraus technische und therapeutische Anwendungen abzuleiten. Die Forschung ist in ein internationales Netzwerk aus klinischen Partnern (z.B. BG Ludwigshafen, ZI Mannheim), Technologieanbietern (z.B. Corticale, Genua) und akademischen Institutionen (wie zum Beispiel Prof. Grabner, ZHAW Zürich/Winterthur, PD Dr. Krauss, Cognitive Computational Neuroscience Group, Pattern Recognition Lab, Universität Erlangen etc.) eingebettet, um neuartige Methoden schnell und verantwortungsvoll in die Anwendung zu überführen.

Referenzen